UTOPIE
NOTWENDIG WIE DAS TÄGLICHE BROT
rundbrief 2006



   
    
 

 

«Poesie – notwendig wie das tägliche Brot», sagt der Dichter. Poesie und Utopie rei-men sich fast. Beide jedenfalls sind absolut unverzichtbar für uns, um gut durch den dunklen Tunnel dieser Zeit zu kommen. Auf keinen Fall geben wir uns mit der herr-schenden Gesellschaftsstruktur zufrieden, die das menschliche Leben auf seinen Marktwert reduziert oder bestenfalls das - stets aufgeschobene - Ziel propagiert, den Hunger auf der Welt zu halbieren...

Wir sind alarmiert und verunsichert. Vielstimmig und unter den verschiedensten Blickwinkeln wird die Krise, in der wir stecken, beschrieben. Wie die Dinge liegen, wird gesagt, läuft es zur Zeit nicht gut, weder für Gott noch für die Welt.
Jedoch sind Krisenzeiten für sich genommen noch nicht notwendigerweise ein Un-glück. Die Krise ist das Fieber des Geistes. Wo es Fieber gibt, gibt es Leben. Tote haben ja kein Fieber mehr.

Es geht nicht darum, die Wirklichkeit, wie sie ist, zu verteufeln. Wir müssen sie, ganz im Gegenteil, annehmen und verändern, das allerdings nicht so knapp. Deshalb ge-ben wir uns auch nicht mehr damit zufrieden, nur festzustellen: ‚Eine andere Welt ist möglich’; wir pochen vielmehr darauf, daß eine andere Welt machbar ist, und daß wir sie gestalten. Die ‚Agenda Latinoamericana Mundial’, deren Ausgabe für 2007 wir bereits in Bearbeitung haben, wird nicht von ungefähr überschrieben mit: “Wir fordern und gestalten eine andere Demokratie». Oder wie ein Slogan der Zapatisten bei ihrer ‚anderen Kampagne’ lautet: «An der Basis – mit dem Volk – und links». Im übrigen gibt es Stimmen, die versichern, daß der «Sozialismus des 21. Jahrhunderts im Kommen» sei, und zwar mit «der Menschheit als Subjekt» der Veränderung.

Utopie ist notwendig, weil sich laut Vereinte Nationen die Kluft zwischen Reichen und Armen immer weiter auftut, selbst in Ländern der Ersten Welt. Lateinamerika wird von der OAS (Organisation amerikanischer Staaten) wegen dieser im System ange-legten Ungleichheit Region mit der größten Ungerechtigkeit genannt. Die Welt ist zwar reicher, aber auch ungerechter geworden. Afrika wurde als «Kellerverlies der Welt», als kontinentale «Schoa» bezeichnet. Weltweit müssen 2,5 Milliarden Men-schen mit weniger als zwei Euro pro Tag auskommen, und nach Angaben der FAO (Welternährungsorganisation) verhungern Tag für Tag 25 000 Menschen. Die Aus-dehnung der Wüsten bedroht das Leben von 1,2 Milliarden Menschen in etwa hun-dert Ländern. Migranten wird brüderliche Aufnahme, ja selbst der Boden unter den Füßen verweigert. Die USA bauen eine 1500 km lange Mauer, um sich gegenüber Lateinamerika abzuschotten; Europa errichtet im Süden Spaniens einen Zaun ge-genüber Afrika. Dies alles ist unrecht und wird doch durchgezogen. Einer jener afri-kanischen Migranten weist in einem bewegenden, «hinter den Trennungsmauern» geschriebenen Brief darauf hin: «Ich bitte euch, glaubt nicht, es sei normal, daß wir ein solches Leben fristen; denn in Wahrheit ist es die Folge etablierten Unrechts, das von unmenschlichen Systemen aufrechterhalten wird, die uns andere töten und zur Armut verdammen,... Unterstützt ein solches System nicht durch euer Schweigen».

Aber die Menschheit «bewegt sich»; und wendet sich der Wahrheit und der Gerech-tigkeit zu. Es gibt auf diesem ernüchternden Planeten viel Utopie und viel Engage-ment. Jemand hat treffend bemerkt, daß «das 20. Jahrhundert zum riesigen Friedhof für Weltreiche geworden ist: das britische, das französische, das portugiesische, das holländische, das deutsche, das japanische und das russische». Noch gibt es, wa-kelnd zwar, das US-amerikanische, aber auch dieses wird fallen. Lateinamerika ent-zieht sich der US-amerikanischen Fuchtel, und auch Asien kehrte auf dem ersten, von den ASEAN-Staaten organisierten Gipfel den USA den Rücken. Die UNESCO erklärte jüngst die Vielfalt der Kulturen zum Weltkulturerbe. Das 21. Jahrhundert, von dem wir schon spüren, daß es sich als mystisches Jahrhundert entpuppt, wird auch zum Jahrhundert der Umwelt. Der ökumenische Dialog und der Dialog zwischen den Religionen gedeihen auf den verschiedensten Ebenen, führen zu so etwas wie einem neuen Muster für den religiösen Glauben und den Frieden in der Welt. Die Kirchen, die Religionen müssen sich notwendigerweise begegnen und Frieden miteinander schließen, und zwar um des Weltfriedens willen. In der katholischen Kirche schaffen es viele Gemeinden und viele theologisch und pastoral interessierte Gruppen - trotz des monotonen offiziellen ‚Weiter so’, das ja zu erwarten war - zugleich glaubenstreu und frei zu sein. Lernen wir, mündige, in Vielfalt geeinte Kirche zu sein. Die Diktatur des Relativismus lehnen wie genauso ab wie die Diktatur des Dogmatismus. Wir werden nicht zulassen, daß das II. Vatikanische Konzil zur «vergessenen Zukunft» wird; vielmehr drängen wir auf einen Prozeß der Vorbereitung eines neuen, wirklich ökumenischen Konzils, das, ausgehend vom christlichen Glauben, seinen Beitrag zur Humanisierung der Menschheit leistet. Hier auf dem amerikanischen Kontinent wird die 5. lateinamerikanische Bischofskonferenz (CELAM V) vorbereitet. Ein erstes Ar-beitspapier sieht wenig ermutigend aus. «Wie von Theologen verfaßt, die bereits das Zeitliche gesegnet haben», frotzelte ein altgedienter Theologe. Wir müssen Alternati-ven entwickeln und dürfen nicht erlauben, daß CELAM V Medellin in der Versenkung verschwinden läßt. Es gibt in Lateinamerika soziopastorale Erfordernisse, die nicht mehr auf die lange Bank geschoben werden können, und die uns Realismus und Vi-sionen, Kohärenz und Engagement abverlangen.

Hier, zu Hause in der Prälatur von São Félix do Araguaia, gehen wir, jetzt mit Bischof Leonardo, unbeirrt unseren Weg. An Herausforderungen fehlt es ja nicht. Immer noch ohne rechtliche Lösung dauert die Besetzung vor der bereits enteigneten Fa-zenda Bordolandia an. Die wilde Ansiedlung ‚Liberdade’, ebenfalls von landlosen Bauern, wartet seit fast drei Jahren auf Legalisierung; und um das Xavantedorf Ma-rawatsede gibt es nun schon seit dreizehn Jahren Spannungen. (Die Landarbeiter- und Indianerpolitik in Brasilien ist zum Vorteil von Großgrundbesitz, Agrarhandel und Landwirtschaftslobby auf der Strecke geblieben). Auf unserer diesjährigen Pastoral-konferenz bekräftigten wir die drei Prioritäten unserer Ortskirche: Ausbildung, Unab-hängigkeit und soziopolitische Pastoral. Zur Zeit laufen die Vorbereitungen für die große Wallfahrt zu Ehren der lateinamerikanischen Märtyrer am 15. und 16. Juli in Ribeierão Cascalheira anläßlich des 30. Jahrestages des Martyriums von Pater João Bosco Penido Burnier. Zugleich mit Pater João Bosco feiern wir all jene, die, vor al-lem hier in Lateinamerika, ihr Leben um des Reiches Gottes willen hingegeben ha-ben. Die Wallfahrt wird unter dem Thema «Leben für das Reich des Lebens» stehen. Aus den Vielen zu Erinnernden wollen wir die Gestalt des Patriarchen der Sache der Indianer, Sépe Tiarajú, hervorheben, dessen heroischer Tod sich zum 250. Mal jährt.
Sich seiner Märtyrer zu erinnern, ist für jedes Volk lebenswichtig. Nicht minder le-benswichtig auch für die Kirche Jesu. Wenn wir das Gedächtnis der Märtyrer verlie-ren, gehen wir auch der Zukunft der Armen verlustig.

Ich selbst koste meinen Ruhestand aus, aber auch die «biologische Armut» mit ihren Einschränkungen. Dafür konnte ich aber einige Bücher, sozusagen als Früchte des Alters, herausgeben. Ist ein wenig Werbung erlaubt? «Murais da Libertação», mit Cerezo Barredo, Verlag Loyola, São Paulo; «Orações da Caminhada», Verlag Verus, Campinas, São Paulo; «Cuando los días dan que pensar», Verlag PPC, Madrid; Los ojos de los pobres”; mit Juan Guerrero, in spanisch und katalonisch, Verlag Ediciones 62, Barcelona. [Diese Bücher sind nicht auf deutsch erhältlich, cf. http://www.servicioskoinonia.org/pedro/obras; Anm. des Übersetzers].

Lassen wir nicht nach darin, Utopie, Engagement, Transparenz und Leben hervorzu-bringen. Und vergessen wir nicht, daß sich jede Utopie in der Praxis des Alltag be-währen muß, daß «nur die Hoffnung derjenigen zu rechtfertigen ist, die unterwegs bleiben» und «daß uns die Hoffnung geschenkt ist, um den Verzweifelten zu die-nen». Für diesen Dienst, denke ich, wird heute von uns vor allem ein in sich stimmi-ges Zeugnis, samaritanische Nähe und prophetische Wachheit erwartet.

Allen, denen ich Freundschaft, Dankbarkeit oder einen Brief schulde, eine feste Um-armung im militanten Frieden des Evangeliums.

 

 

Pedro Casaldáliga
São Félix do Araguaia, MT, Brasil
Januar 2006