Die Mitte der Nacht ist der Anfang des neuen Tages

Pedro Casaldáliga

 

Rundbrief 2003

 

Zwei Jahre des 21. Jahrhunderts sind bereits vergangen und die Welt ist nach wie vor grausam aber auch solidarisch, ungerecht aber auch Hoffnung weckend. Weiterhin gibt es Kriege, die Supermacht besteht fort und obendrein reklamiert die Supermacht jetzt noch den Präventivkrieg für sich. Auch ist die Welt weiterhin gespalten in Erste, Dritte und Vierte Welt.

Gewachsen sind Hunger, Armut, Korruption und Gewalt; aber ebenso hat Bewusstsein, Protest, Organisation und das explizite Verlangen nach Alternativen zugenommen.

 

Jene von Karl Rahner für das neue Jahrhundert vorhergesagte mystische Prägung zeigt sich zweifellos in vielfältiger Gestalt, mal verwirrend, mal im Dialog. Die Religionen werden zunehmend im Rahmen eines religiösen Pluralismus wahrgenommen. Sie werden zu Miteinander und Austausch finden müssen. In tausend Namen und tausend Suchbewegungen bricht sich der Glaube und – geschwisterlich gelebt – wird er zur bedeutendsten Stütze menschlicher Hoffnung.

 

Gott kommt zum Vorschein. Was zum Vorschein kommt ist eine neue Menschheit.

 

Es gibt ein wachsendes, nicht kontrollierbares Streben nach Veränderung. Das herrschende Leitmotiv in Manifesten, Foren und Diskussionsrunden lautet: „Etwas anderes wollen wir!“ Wir wollen eine andere Welt, denn eine andere Welt ist möglich, notwendig, ja überfällig. Eine geeinte Welt, ohne Erste und Dritte, ohne Supermächte und ohne Völkermorde, ohne mit Blut erkaufte Gewinne und ohne die Hoffnung raubende Ausgrenzungen. Wir wollen ein anderes Amerika, ganz konkret: ohne Beherrschung, ohne ALCAS [Amerikanische Freihandelszone; d.Übers.], vielmehr in geschwisterlichem Miteinander. Wir wollen auch eine andere Kirche, ohne „Klassen“, ohne Zentralismus oder konfessionelle Haarspaltereien.

 

Auf Weltebene artikuliert sich dieser Wille nach Veränderung im Weltsozialforum und den Regionalforen. In unserem Amerika ist die wichtigste Veränderung derzeit mit dem Namen Lula verbunden, dem neuen Präsidenten Brasiliens. Er ist ein Bezugspunkt der Hoffnung für den ganzen Kontinent.

In der Kirche bündelt sich die Unruhe in dem Vorschlag, einen konziliaren Prozess einzuleiten. Er mag zwar einigen rückwärts gewandten Geistern inopportun erscheinen, bringt aber in gut kirchlicher Manier den vielfältigen Willen zum Ausdruck, eine andere Kirche zu sein und zu gestalten: den Armen des Reiches Gottes näher, inkulturierter, barmherziger, synodal-mitverantwortlicher, kurz: geschwisterlicher. Es ist überhaupt nicht abwegig, von einem III. Vatikanischen Konzil zu träumen oder einem I. Mexikanischen oder, gut asiatisch, einem in Bombay...

 

Tatsache ist, dass wir Beherrschung und Mangel an Transparenz auf allen Ebenen des öffentlichen wie privaten Lebens satt haben. Unsere Welt und unser kleines Herz, beide offenbar so verderbt, haben viel einzubringen: guten Willen, Durst nach Wahrheit, Hunger nach Leben, letztlich Hunger nach Gott. Die Zeichen der Zeit sind trotz so vieler Anti-Zeichen sogar richtig hell und ermutigend. Das sephardische Sprichwort bringt es auf den Punkt: „Die Mitte der Nacht ist der Anfang des neuen Tages...“

 

Auch hier in unserer jungen Ortskirche der Prälatur von São Félix do Araguaia stehen Veränderungen ins Haus. In diesem Jahr werde ich 75 Jahre alt und muss somit nach kirchlichem Recht die Mitra ablegen. In den vergangenen Monaten erlebten wir mit den Regionalkonferenzen und der Veröffentlichung unseres Grundsatzprogramms – mit Zielvorgaben, Haltungen und Normen als Orientierungshilfe und Richtschnur für unsere pastorale Linie – eine recht fruchtbare Zeit des „Übergangs“.

 

In dieser Stunde und mit diesem kurzen Rundbrief möchte ich im Namen des Volkes der Prälatur und des Pastoralteams den vielen Freunden/innen und Institutionen, die uns begleitet und unsere Mission und Dienste ermöglicht haben, für ihre großherzige und uneingeschränkte Solidarität, Mitarbeit und Präsenz danken. Zuerst sei natürlich an die Männer und Frauen des Pastoralteams, die hier „des Tages Last und Hitze“ und auch mich ertragen haben, erinnert. Die Liste der Mitarbeiter und Freunde ist zu lang, um sie alle namentlich aufzuzählen. Bei Gott sind sie ja alle im Buch des Lebens verzeichnet. Manche Freunde und befreundete Institutionen haben uns von der ersten Stunde an begleitet, vor allem aber in Zeiten der Repression und des Unverständnisses. Ich weiß, dass sie auch in Zukunft die Prälatur von São Félix do Araguaia mit ihrer Freundschaft und Solidarität begleiten werden. Ihr gehört ja sozusagen schon lange zur Familie, zu diesem kleinen, aber lebendigen Teil des Gottesreiches „zwischen dem Araguaia und dem Xingú, zwischen Pará und Südgrenze“ [Anspielung auf den Refrain der Diözesanhymne von São Félix; d.Übers.]:

 

Ich meinerseits fühle mich wie einer, der ohne die genaue Abfahrtszeit bzw. den nächsten Zielort zu kennen an einer Bushaltestelle wartet, allerdings wissend, dass wir auf unserer unscheinbaren menschlichen Reise zum ewigen Vater- bzw. Mutterhaus nicht allein unterwegs sind.

 

Das sephardische Sprichwort spricht vom Licht des neuen Tages; ein anderes, weit verbreitetes Sprichwort sagt, dass in der Stunde der Abenddämmerung das Licht nicht mehr blendet... Im übrigen mache ich mir einige Verse des „Mannes von La Mancha“ zu eigen, in denen ich mich sehr deutlich wiederfinde:

 

„Noch einen unmöglichen Traum träumen.

Kämpfen, wenn Nachgeben leicht wäre.

Den unbesiegbaren Feind besiegen.

Zurückhalten, wenn die Regel Verkaufen heißt.

 

Wie viele Kriege muss ich gewinnen um des Friedensbrunnens willen!

Und morgen, wenn dieser Boden, den ich küsste,

Mir Bett und Vergebung geworden,

Werde ich wissen, dass es sich lohnte verrückt zu sein

Und zu sterben vor Leidenschaft!“

 

Und nun, wie überhaupt immer, gilt  vor allem der Wahlspruch, den uns die kleinen Schwestern Jesu anlässlich der Feier ihrer 50 Jahre unter den Tapirapé ins Gedächtnis gerufen haben: „Das Evangelium durch das eigene Leben hinausschreien“.

Wir werden uns jetzt nicht verabschieden. vielmehr bleiben wir verbunden im kämpferischen Frieden des Gottesreiches.

 

Pedro Casaldáliga